Woche für Woche gibt das Heidenheimer Naturtheater „The Blues Brothers“. Tausende pilgern bis Ende August dorthin und erleben „Neonazis“, die deutsche Volkslieder singen. Alle sind begeistert, nur einer nicht: Erich Schmeckenbecher, früher Zupfgeigenhansel.
„The Blues Brothers“ sind ein Klassiker, entstanden in den späten 70er-Jahren, endgültig zum Kult geworden Anfang der 80er als Roadmovie von John Landis. Die Heidenheimer spielen das ganz hübsch. Die Musik, die Band mit guten Musikern, die Performance der Akteure, die feine Choreographie mit viel Bewegung, Farbe und lustigen Szenen. Kurz: Es hätte ein wirklich schöner Theatersommerabend werden können. Hätte, hätte, hätte…
„Im Frühtau …“, Bühnennazis von rechts. Bild unter:
In der ersten Hälfte tauchen plötzlich „Neonazis“ auf, die, von rechts kommend, im Gleichschritt und in alten gelb-beigen Landespolizeiuniformen das Lied „Im Frühtau zu Berge …“ grölen. Hoppla, denke ich, die werden doch nicht ausgerechnet dieses Lied als typisches „Neonazi-Lied“ singen wollen. Oh doch, die wollten. Die sangen, als ob sie keine Ahnung von der Geschichte des Liedes hätten, vehement und unbedarft und gerade so, als ob der Regie entgangen wäre, dass die Inszenierung damit auf Stammtischniveau landete. Es sei denn, der Regie ist gar nichts entgangen, es sei denn, das war Absicht.
„Im Frühtau zu Berge“: Das seit Mitte der 1920er-Jahre populäre Wanderlied stammt aus Schweden. Den ursprünglichen Text des Liedes („Vi gå över daggstänkta berg“) schuf der Maler und Dichter Olof Thunman im Jahr 1900 zu einer traditionellen schwedischen Melodie. Das Lied findet sich bis heute vor allem im Repertoire von Jugend- und Wanderliederbüchern, missbraucht haben es die Nazis, so, wie sie das Volkslied überhaupt missbraucht haben. In dem Lied steckt aber die Wahrheit des Urhebers, die es zu respektieren gilt. Immer. Und die hat mit NS-Gedankengut rein gar nichts gemein, dafür gibt es haufenweise Lieder, die typisch für alte und neue Nazis sind. Da muss nicht „Im Frühtau zu Berge“ für eine erneute Demütigung herhalten.
Die Heidenheimer Formel: Volkslied = bieder = doof = Nazikram
Offenbar doch. Ich muss es erleben. In Block C , Reihe 8, Platz 56. Bühnennazis im Gleichschritt grölen „ihr“ Kulturgut und singen „natürlich“ deutsche Volkslieder. Und indem man deutsche Volkslieder lächerlich macht, drückt man seine „entschiedene politische Gegnerschaft gegen die Neonazis“ aus. Eben nicht. Das ist ein konservativer Spießbürger-Irrtum.
Auch das Lied „Auf einem Baum ein Kuckuck saß …“ wird braun eingefärbt, und das ist noch grotesker. Auch hier die Formel für das Publikum: Volkslied = bieder = doof = Nazikram. Die Regie haut der braunen Bande nicht etwa aufs Maul und lässt sie tatsächlichen Nazischeiß singen, sondern verknüpft vergewaltigte Lieder wieder mit den einstigen und neuen Vergewaltigern und macht so die eigentlichen Opfer, die Lieder nämlich, zu Mittätern.
Gegendemo auf der Bühne. Bild unter:
Und das Ganze gilt dann als gelungene Demonstration von Antifaschismus: Blues Brothers, Blues, R & B, Soul, Rock ’n‘ Roll gegen rechts. Getragen und bestätigt von einem belustigten tausendköpfigen Publikum. Indem man heftigst ablachen konnte, hat man das ganze Schauspiel als lustige Szene, als Spaß, als Erfolg verbucht, mit dem Effekt, dass die Formel noch erweitert wurde: Volkslied = blöde = Nazikram = alles zum Lachen. Aber das ist keinem übel aufgestoßen. Nur mir.
Der beliebte Oberbürgermeister der Stadt, Bernhard Ilg (CDU), der am selben Abend auch anwesend war, weiß im Programmheft über das „Amateurtheater“ zu berichten: „Das, was dort entsteht, ist alles andere als amateurhaft, ist vielmehr großes Theater mit hohem Spaßfaktor und Unterhaltungswert.“
Wader und Rio Reiser haben den Kuckuck besungen. Alles Nazis?
„Auf einem Baum ein Kuckuck saß“ ist ein deutsches Kinderlied, ein Singspiel, ein Volkslied und Gedicht aus dem Bergischen Land des 19. Jahrhunderts. Eine frühe Fassung steht auch in einer kleinen Sammlung mit Karnevalsliedern, Narhalla-Lieder, Mainz um 1842. (Anmerkung: Damals war der Karneval noch eine hochpolitische Sache, Stichwort: Mainzer Republik). Seit etwa 1900 ist das Lied vielfach im Repertoire von Gebrauchsliederbüchern aus der Zeit der Wandervögel, der Bündischen Jugend und in Wanderliederbüchern. Seine Popularität als scherzhaftes Gesellschaftslied bezog es wesentlich aus den wiederholten Unsinnssilben („sim sa la dim bam ba sa la du sa la dim“ u. ä.).
Die eigentliche Textbedeutung des heute noch sehr bekannten Volkslieds ging allerdings im Laufe der Zeit verloren. So symbolisiert der „Kuckuck“ höchstwahrscheinlich die Freiheit und den Widerstand gegen jede Art von Unterdrückung. Der „Jäger“ verkörpert den absolutistischen Herrscher, der die Freiheitsgedanken zumindest unterdrücken, besser ganz ausmerzen möchte. Doch die Wünsche nach Freiheit kommen immer wieder, wie der Kuckuck. Nebenbei bemerkt haben Künstler wie Nena, P. R. Kantate, Rio Reiser und Hannes Wader das Lied gesungen. Alles Nazis?
Und noch etwas: Dass die ganze Blues-Brother-Story noch dazu eine typische weiße ist, sei mal dahingestellt. Auch dass in dem Stück kaum wirklich echter Blues vorkommt und die Songs hauptsächlich aus Soul und R-&-B-Klassikern bestehen, geschenkt. Aber die eigentliche Geschichte, um dies es gehen könnte, nämlich der Blues der Schwarzen, ist da genauso versteckt und spielt, wenn überhaupt, nur eine kleine Nebenrolle als Feigenblatt.
Dieser Blues der Schwarzen ist aber dem Volkslied hierzulande inhaltlich sehr nahe. Die Gefühle der Ausgebeuteten und Benachteiligten waren dieselben. Man sang, um die Sklaverei, die Welt der Knechtschaft, zu vergessen, um sie besser ertragen zu können. Und wir nehmen uns heutzutage die Freiheit, diese Geschichten und diese Geschichte für irgendwelche Zwecke zu kommerzialisieren, sie umzubiegen, zu verdünnen oder gar mit Naziidentität zu missbrauchen. Das ist schlicht ein Schlag ins Gesicht all jener Vorfahren, die für ebendiese unsere Freiheit ihr Leben lassen mussten. Wir nehmen uns die Freiheit, mit dem historischen Erbe dieser „guten“ Vorfahren dumpfbackig, arrogant, pragmatisch und geschichtslos umzugehen.
Bravo.
Erschienen bei KONTEKT:Wochenzeitung – Ausgabe 174 – Kultur – 30.7.2014 http://www.kontextwochenzeitung.de/kultur/174/nazis-auf-heidenheimer-art-2356.html
Lieber Erich Schmeckenbecher,
Dein KONTEXT-Beitrag hat ja, wie ich sehe, schon etliche beipflichtende Kommentare erbracht. Deshalb nur in aller Kürze meine Einschätzung als langjähriger Mitarbeiter beim folk-michel (ab 1977) und FOLKER: Ich ärgere mich bis heute, dass seinerzeit (70er und 80er Jahre) auch der Begriff „Volksmusik“ fast ohne „Gegenwehr“ der „breiten Öffentlichkeit“ überlassen wurde und längst Volksmusik, wie wir sie während des Revivals verstanden haben, als Synonym für „volkstümliche Musik“ benutzt wird. Ergo ist es für nachwachsende Generationen ziemlich einfach, traditionelle Volkslieder locker in die rechte Ecke abzuschieben. Ich habe da immer wieder heftige Diskussionen mit jungen KollegInnen, die andererseits bewundern, wie z. B. in England oder Irland oder auch in Regionen Frankreichs die eigene Volksmusiktradtion noch hochgehalten wird. Ich vermute mal, dass wir diese Entwicklung nicht mehr drehen können. Immerhin bin ich froh, dass ich meinen Kindern (inwzsichen 29 und 24 Jahre alt) noch das eine oder andere Lied (auch aus dem Zupfgeigenhansl-Repertoire) habe mitgeben können.
Viele Grüße von der Saar
Roland
P. S. Erinnere mich noch gerne an diverse Gigs (Dillingen, Freiburg, Heidelberg)
Sehr geehrter Herr Schmeckenbecher,
heute Morgen war ich sehr erstaunt über den o.g. Artikel in der Heidenheimer Zeitung. Und ich, als Heidenheimer, der sehr gerne das Naturtheater besucht, muss sagen: Sie haben vollkommen recht! Ich habe das Stück \“Blues Brothers\“ sehr gemocht, die Darsteller sind mir teilweise seit vielen Jahren persönlich bekannt, ich fand die Umsetzung des Films sehr stimmig und gelungen. Musik und Choreographie, soweit ich es als Laie beurteilen kann, waren ebenfalls hervorragend. Aber: Die von Ihnen kritisierte Passage ist mir, noch während die \“Neonazis\“ gesungen haben, störend aufgefallen und ich habe auf dem Heimweg noch einige Zeit über die Auswahl der Lieder und über die Reaktion des Publikums hachgedacht. Nun hätte man die Regisseure vermutlich in der Luft zerissen, wenn tatsächlich authentische Nazilieder gesungen worden wären. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, man hätte einen Sprechchor mit einer entlarfenden Parole gewählt, anstatt Volkslieder zu verwenden. Bis heute war ich der Meinung, der einzige zu sein, der sich an der Verwendung von Volksliedern im Stück gestört hat. Vielen Dank für Ihren Mut und Ihre Beharrlichkeit! Es tut gut, zuweilen von Menschen zu hören, die Ihre Geschichte noch kennen. Nur wer seine Geschichte kennt, ist nicht dazu verdammt, immer wieder dieselben Fehler machen zu müssen. Gerade wir Deutschen sollten hier aufmerksamer sein. Ich bin übrigens \“erst\“ 47 Jahre alt und eher ein Rock´n Roller als ein Volksmusikfan 😉
Und ich glaube, dass Ihnen viele Heidenheimer, wenn sie über den Artikel nachdenken, recht geben werden. Also: auf bald mal wieder auf der rauhen, aber meistens doch recht herzlichen, Ostalb!
Jürgen Kübler